Samstag, 31. August 2013

Wer die Gefahr liebt… oder: Die Geschichte von Alypius

Im 6. Buch seiner „Bekenntnisse“ (Confessiones) erzählt der heilige Augustinus von einem hochbegabten und verheißungsvollen jungen Mann, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Alypius, so sein Name, wies viele Kennzeichen ernsthaften Strebens nach Tugend auf, hatte aber eine schwache Stelle, nämlich eine „blinde, verderbliche Leidenschaft“, die „sein schönes Talent zu Grunde zu richten drohte“ (Conf. 6,7), und diese galt den Zirkusspielen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, was sich hinter dem Wort „Zirkusspiele“ damals verbarg: nicht harmlose Unterhaltung, sondern das blutige Spektakel von Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen. Für einen sittlich hochstehenden Menschen kamen solche Vergnügungen eigentlich nicht in Frage. Und doch erlagen ihnen allzu viele.

Es gelang Augustinus zunächst, Alypius argumentativ von seiner Begeisterung für diese Veranstaltungen zu befreien. Aber dann ereignete sich etwas, das uns zu denken geben sollte. Lassen wir Augustinus selbst berichten: „Obwohl Alypius derlei verschmähte und verabscheute, führten ihn doch einige Freunde und Kommilitonen … an einem der grausamen und unheilvollen Spieltage trotz seiner Weigerung und seines entschiedenen Widerstrebens mit freundschaftlicher Gewalt ins Amphitheater. Er aber sprach dabei: ‚Wenn ihr meinen Leib dorthin schleppt, könnt ihr etwa auch meinen Geist und meine Augen auf jene Schauspiele hinbannen? Ich werde also zugegen und doch abwesend sein und so über euch und über die Spiele den Sieg davontragen‘. … Als sie dorthin kamen und, wo es eben ging, Platz nahmen, erglühte schon alles in wilder Lust. Alypius verschloss die Fenster seiner Augen und verbot seinem Geiste, sich auf schändliche Vorgänge einzulassen.“ (Conf. 6,8)

Es ist gewiss ein löblicher Vorsatz, alles zu tun, um den gefährlichen Eindrücken den Weg zu den Sinnen und damit zur Seele zu versperren. Alypius zeigte durch sein Verhalten den festen Willen, sich dem unwürdigen Ergötzen nicht hinzugeben. Aber war es denn auch klug gewesen, sich überhaupt von den anderen in das Amphitheater mitnehmen zu lassen? Wohl kaum. In den meisten solcher Fälle von Vermessenheit und Leichtsinn behalten, wie es die Erfahrung hinlänglich zeigt, die Sprichworte Recht: „Wer die Gefahr liebt, kommt in ihr um.“ „Wer mit dem Feuer spielt, wird sich verbrennen.“ Und auch: „Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.“

Alypius also hielt die Augen verschlossen. „Doch“, so schreibt Augustinus, „hätte er nur auch die Ohren verstopft! Denn als einer im Kampfe fiel und deshalb ungeheurer Lärm des Volkes gewaltig an ihn heranbrauste, öffnete er, von Neugier überwältigt, … seine Augen und wurde dabei schwerer an der Seele verwundet als der, den zu sehen ihn gelüstet, am Körper, und elender fiel er hin als der, durch dessen Fall das Geschrei entstanden war. Durch seine Ohren drang es ein und seine Augen erschloss es, so dass er getroffen und niedergeworfen werden konnte. … Denn wie er das Blut sah, schlürfte er mit dem Blutgeruch auch unmäßige Wildheit in sich hinein; statt sich abzuwenden, heftete er fest seinen Blick darauf … und hatte seine Freude an dem verbrecherischen Kampfe und berauschte sich in blutgieriger Wollust. Schon war er nicht mehr derselbe, der gekommen war, sondern einer aus der Menge, zu der er gekommen war, und ein richtiger Genosse derer, die ihn hergeführt hatten. Was soll ich noch sagen? Er schaute zu und schrie und tobte und trug von dort das wahnsinnige Verlangen mit sich, das ihn anstachelte, wiederzukommen, nicht mehr in der Gefolgschaft jener, sondern noch vor ihnen und andere mit sich schleppend.“ (Conf. 6,8)

 Die Verwandlung des Alypius ist erschütternd: Aus dem besonnenen, aufrechten, nach Tugend strebenden und sich dadurch von der Menge absondernden jungen Mann ist ein willenloses Teilchen gerade dieser unförmigen, sensationsgierigen, blutlüsternen Menge geworden. Und das allein deshalb, weil er das Gesetz der Vorsicht außer Acht ließ. So konnten sich die Gesetze von Fall und Schwerkraft des Alypius bemächtigen, ihn in die Maschinerie der aufgepeitschten Masse hineinreißen und ihn dem Mechanismus ihrer zerstörerischen Leidenschaften ausliefern.

Angesichts dieses erschreckenden Exempels versteht man besser die Ermahnung des heiligen Alphons Maria von Ligouri an die Prediger, sie sollten das gläubige Volk möglichst oft darüber belehren, die nächsten Gelegenheiten zur Sünde zu meiden. Davon zu sprechen sei für das Seelenheil höchst notwendig und hilfreich, außerdem hasse der Satan kein anderes Thema mehr als dieses. Erstaunt stellt man fest, wie selten davon in der heutigen Verkündigung die Rede ist, lauern doch gerade in unseren Tagen überall Gefahren, bei denen es nicht genügt, die Augen für einige Momente zu verschließen, von denen man sich vielmehr entschieden abwenden muss, um sich nicht zu verbrennen oder gar in der Gefahr umzukommen.

Und was ist aus Alypius geworden? Der heilige Alypius, Bischof von Thagaste! Er hat seine Lektion offenbar gelernt und gibt sie nun an uns weiter.

 P. Bernward Deneke FSSP, Wigratzbad



Hinweise:
- mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
- der Beitrag erschien bereits im Schweizerischen Katholischen Sonntagsblatt (SKS) 

- Foto: British soldiers visit the Colosseum while on leave in Rome, June 1944; wikimedia commons



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