Dienstag, 10. Februar 2015

Das Erlebnis der Innewerdung katholischer Fülle (Pfr. Georg Klünder)


Am Tage nach Allerseelen 1943 stand ich vor der Westfassade der Kathedrale von Rouen. Die scheidende Sonne des Spätherbstes überzog das verwitterte Gestein, während die modernen Gebäude, die den Kirchplatz säumten, im grauen Schatten des Novembernachmittags blieben, mit einem matt leuchtendem Glanz, der eine doppelte Steigerung hervorrief: einerseits wurde das Unendlichkeitsbegehren, das sich in der gotischen Entstofflichung des Steins ausspricht, noch erhöht, andererseits wurde die Seins- und Gnadenunerschöpflichkeit des Ewigen in einem überwältigenden Bilde zu realer Anschauung gebracht.

Mein Auge stieg an den Skulpturen der Torbögen empor bis zu den höchsten Ziertürmchen und Kreuzblumen, über deren Hintergrund der schlanke Vierungsturm wie ein ehernes Memento emporragte.

Ich versuchte, das Ganze der konstruktiven Bauglieder mit einem einzigen Blick zu umfassen und den Gedanken dieser gewaltigen architektonischen Planung in einer anhaltenden, eindringlichen Schau nachzuerleben. Mich überkam eine "nüchterne Trunkenheit", eine überrationale Klarheit des Geistes, die fürchten musste, das Erkannte, wenn es gesagt ist, mit Schatten zu belasten.

Während ich an meiner grüngrauen Montur* herabblickte und unseres Jahrhunderts Not und Armut mir sinnfällig vor die Augen drang, fragte ich mich, wieder in andächtigem Anblick von Pfeilern, Bögen und Maßwerken: Welche geistige Wirklichkeit muss die Leute der Bauhütte einst besessen haben, als sie ans Werk gingen? Und dann war es klar: der Generalnenner, auf den sich die Jenseitsrichtung der aufstrebenden Linien, die maßstrenge Einteilung der Räume und die tiefe Symbolik der Formen vereinigen, ist die Fülle. Sie wussten etwas von der Fülle, die Gott ist, von der Fülle, mit der er unter uns bleiben will bis ans Ende der Welt.

Was ich in dieser Stunde innerlich erfuhr, war, mag es auch die Betrachtung eines Kunstwerkes ausgelöst haben, kein ästhetischer Rausch und auch nicht ein solcher der Macht. Es war eine letzte, überrationale Einsicht in den Zusammenhang von Gott und Welt. Die Fülle, deren ich inne wurde, war ja nicht fossile Masse mit der dumpfen Lockung des Machttriebes; sie war Ordnungsfülle, gebändigt in edle Maße, und drängte zu theologisch-rationaler Erfassung.


*  Anmerkung: Der Autor befand sich als deutscher Soldat in Frankreich.


Pfarrer Dr. Georg Klünder über den Moment der Innewerdung katholischer Fülle, die er im Protestantischen so sehnlich vermisste. Aus: Bekenntnis zur katholischen Kirche - Die evangelischen Theologen Pfarrer Giebner, Dr. Klünder, Pfarrer Goethe und Professor Dr. Schlier rechtfertigen ihren Weg zum katholischen Glauben; Echter Verlag Würzburg, AD 1955, Hrsg. Karl Hardt; S. 70/71 (s. Quellen)


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Heimkehr eines weiteren, ehemals evangelischen Pfarrers in die Una Sancta:




Bild: Westfassade der Kathedrale zu Rouen, Normandie (F); tk; wikimedia commons

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