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Samstag, 5. Juli 2014

Das Priestertum ist die Liebe des Herzens Jesu - Eine Begegnung mit dem hl. Pfarrer von Ars

von P. Bernward Deneke

Zuweilen möchte man die Zeituhr zurückdrehen und sich eine Begegnung mit bedeutenden Persönlichkeiten früherer Epochen ausmalen. Wir wäre es wohl gewesen, diese oder jene Berühmtheit in ihrer Lebenswelt anzutreffen?

Weil ich Priester bin und der heilige Jean-Marie Vianney auch für mich ein herausragendes priesterliches Vorbild ist, liegt es nahe, sich eine Begegnung mit ihm, dem Pfarrer von Ars, vorzustellen. Und zwar eine Begegnung unter Priestern. Ich versetze mich also in die Person irgendeines seiner Mitbrüder, der gemeinsam mit dem späteren Heiligen das Seminar besucht und aus dieser Zeit noch manche Erinnerung an ihn bewahrt hat, der aber nachher keinerlei Kontakt mehr zu ihm unterhielt – bis zu den denkwürdigen Ereignissen, die jetzt zu schildern sind. (Hier beginnt der Bericht des Abbé N. N. über seine Wiederbegegnung mit dem Pfarrer von Ars:)

Immer wieder hatte ich in den letzten Jahren über das Wunder von Ars erzählen hören. Um es sogleich zu sagen: Es handelte sich bei den Personen, die mir da von einem außerordentlichen Priester vorschwärmten, nicht um die Vertrauenswürdigsten. Manche von ihnen waren mir als ausgesprochene religiöse Exzentriker mit einem Hang zum Aberglauben bekannt. Immer auf der Suche nach Mirakulösem, hatten sie jetzt offensichtlich eine neue Sensation ausfindig gemacht: den Pfarrer eines völlig unbedeutenden Örtchens, dem man allerlei Erstaunliches nachsagte.

Als entschiedener Gegner von Personenkult und fragwürdiger Mystik hatte ich die Sache zunächst ignoriert. Weil aber die Wellen des Phänomens Ars mehr und mehr auch in meinen Seelsorgebereich hinüberschwappten, mußte ich mich nun doch dafür interessieren. Und das, ich gebe es zu, mit einer Einstellung, die sich des vernichtenden Urteils bereits sicher war.

Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich den Namen des legendenumwobenen Pfarrers von Ars vernahm: Jean-Marie Baptiste Vianney! Anfangs wollte ich es nicht glauben, daß ausgerechnet jener minderbemittelte Mitstudent von damals nun ein umschwärmter Geistlicher sein sollte. Aber dann fielen mir andere Fälle ein, in denen sich gerade Priester mit theologischen Defiziten durch bestimmte Sonderlichkeiten profiliert und einen Namen gemacht hatten. Es ist ja bekanntlich nicht schwer, gewisse Schichten des katholischen Volkes zu beeindrucken und an sich zu binden, Menschen nämlich, denen es weniger um solide Glaubenslehre und objektiv-kirchliche Verwaltung der Sakramente geht als um außergewöhnliche Geschehnisse und fromme Verrenkungen. So betrachtet, paßte Jean-Marie Vianney also doch ins Bild.

Denn was wußte ich noch von ihm? Er, ein einfacher Bauernsohn aus Dardilly, war als Spätberufener mit mir für drei Jahre im Seminar von Lyon gewesen. Dort hatte er nicht im Ansehen gestanden, eine Leuchte der Wissenschaft zu sein: Weil seine Leistungen, besonders die Lateinkenntnisse weit unter dem erforderten Niveau lagen, war er schließlich weggeschickt und später nur auf Betreiben seines Mentors, des alten Asketen Pfarrer Balley, zur Abschlußprüfung zugelassen worden.

Vianney gehörte im Seminar zu den Strengen und Engen, ja er war wohl der Strengste und Engste von allen. Sein geistliches Streben wirkte auf mich reichlich angespannt, für fröhliches Zusammensein und festliche Mahlzeiten hatte er (entgegen der tiefen Weisheit der hl. Theresia von Avila: „Wenn Fasten, dann Fasten, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn!“) nichts übrig. Während seines letzten Seminarjahres schottete er sich gänzlich von den anderen ab, spielte den Wüstenvater oder Trappisten. Er redete nicht mit uns und schien ganz in seiner nicht sonderlich einladenden Welt zu leben. Jean-Marie mag viele Tugenden geübt haben; von derjenigen der Leutseligkeit aber konnte ich bei ihm keine Spur feststellen. 

Eigentlich hätte man ihm die Pforte zum Priestertum wohl gar nicht eröffnet. Doch im Abschlußexamen ließ man sich aus unerfindlichen Gründen auf seine Stufe herab: Statt in der Kirchensprache befragte man ihn in der Muttersprache, und da er nicht einmal darin richtig zu antworten wußte, wurde ein zweiter Gnadenanlauf gewährt. Bei dieser Gelegenheit stellte der anwesende Generalvikar die Fragen: "Ist Vianney fromm? Verehrt er die Gottesmutter? Kann er den Rosenkranz beten?“ Und als man versicherte, er sei wahrhaft ein Vorbild an Frömmigkeit, entschied sich der Vertreter des Bischofs: „Ein Vorbild an Frömmigkeit! Gut, ich berufe ihn. Die Gnade Gottes wird den Rest machen."

Ich weiß noch, auf welches Befremden der Vorgang bei einigen Mitbrüdern stieß. Als man dann recht bald von exzessiven Bußübungen munkeln hörte, die der neugeweihte Priester, inzwischen Vikar in der Pfarre zu Écully, praktizierte, schien das alle Vorbehalte zu bestätigen. Vianney bei Pfarrer Balley! Glaubhaften Gerüchten zufolge bestand zwischen dem alten und dem jungen Asketen gar ein Wettstreit in der Verwendung der Geißel... Hätte man den Neupriester nicht bei einem gesetzteren, auf harmonische Persönlichkeitsentwicklung bedachten Pfarrherrn in die Lehre schicken können? - - -

Mit solchen Gedanken kam ich eines Abends in Ars an. Ich wollte mir selbst einen Eindruck verschaffen. Wollte nicht nur vom Hörensagen her urteilen, sondern meine Ablehnung der Umtriebe aus eigener Anschauung begründen können. Und dabei schienen mir schon die ersten Augenblicke in dem Ort helfen zu wollen: Alles war hier vom Kult dieses Priesters erfüllt. Man tauschte Geschichtchen und Bildchen von ihm aus. Eine offensichtlich überspannte Frau in der Herberge zeigte jedermann stolz einen Fetzen aus der Soutane des Pfarrers, den sie ergattert hatte und nun als Reliquie mit sich herumtrug... Mein Gedanke war: „Daß Vianney sich das alles nicht verbittet, spricht klar gegen ihn!“

Sehr bald wurden mir auch Inhalte seiner Verkündigung zugetragen. Die Wirtshäuser soll er vor Jahren als „Werkstätten des Teufels“, als „Schulen, in denen die Hölle ihren Unterricht gibt“ und als „Stätten, wo man die Seelen verkauft“ bezeichnet haben, den Tanz als „jenen Strick, mit dem der Teufel die meisten Seelen zur Hölle zieht“, und: Wer zum Tanzen geht, läßt vielfach seinen Schutzengel an der Türe zurück und der Teufel ersetzt ihn, so daß es im Tanzsaal alsbald ebensoviel Teufel wie Tänzer und Tänzerinnen gibt."

Ist das wohl die Art, in der die weise und milde Mutter Kirche ihre Kinder unterrichtet sehen will? Daß Vianney nach glaubhaften Berichten jungen Menschen, die sich des Schwerstvergehens „Tanz“ schuldig gemacht hatten, über lange Zeit hin die Lossprechung verweigerte, zeugte für mich davon, wie wenig in ihm zu finden war von der Güte und Weitherzigkeit der besten französischen Tradition beispielsweise eines Vinzenz von Paul und Franz von Sales. Stattdessen fühlte ich mich eher an die Härte der Jansenisten erinnert.

Dennoch, die Massen strömten zu seinem Beichtstuhl. Und ich fragte mich: Widerspricht nicht schon dieses Verhalten dem Willen der Kirche? Der katholische Christ muß doch wissen, daß die Sakramente von objektiver Wirksamkeit sind und nicht an der – angeblichen oder tatsächlichen – Heiligkeit eines bestimmten Priesters hängen. Hätte Vianney auch nur ein wenig kirchlichen Sinn, dann würde er die Menschenmengen gewiß fortschicken: „Geht, denn was ihr hier sucht, das könnt ihr bei jedem rechtgläubigen und rechtmäßigen Verwalter der Sakramente finden!“ Ja, das wäre ein Ausdruck von menschlicher und priesterlicher Größe gewesen. Er aber hörte Tag für Tag (und sogar bis in die Nächte hinein) Beichte um Beichte.

Im Studium hatte man uns immer wieder gesagt, gerade für die Verwaltung des Bußsakramentes bedürfe es sehr solider Kenntnisse. Ein „doctus cum pietate“ solle der Beichtvater sein: ein Gelehrter mit Frömmigkeit. Von der heiligen Theresia von Avila wird sogar der Ausspruch überliefert, wenn man sie vor die Wahl zwischen einem nur frommen und einem nur gelehrten Seelenführer stelle, so werde sie sich ohne Zögern für den letzteren entscheiden. Was also, dachte ich mir, ist davon zu halten, wenn jetzt Scharen von Menschen nach Ars reisen, um sich ausgerechnet Vianney in der Beichte anzuvertrauen, einem Priester, für den die Kirchenlehrer Augustinus und Thomas, aber auch unsere hervorragenden Franzosen Bernhard von Clairvaux, Kardinal Bérulle, Jean Eudes und Franz von Sales offensichtlich umsonst geschrieben haben... - - -

Ich gestehe, daß mich derartige Gedanken ganz gefangen genommen hatten, bis ich am kommenden Morgen plötzlich, ich weiß nicht aufgrund welcher besonderen Gnade, meine Augen und dann auch nach und nach mein Herz zu öffnen begann, um anderen, durchaus gegenteiligen Eindrücken den Weg in mein Inneres zu gestatten. „Ars ist nicht mehr Ars“, dieses schon beinahe geflügelte Wort, wurde mir auf meinem frühmorgendlichen Weg zur Kirche eine geradezu handgreifliche Realität. Von den oft unruhigen und wundersüchtigen Pilgern unterschied ich nun die Einheimischen: schlichte und einfache Menschen, denen Sensations- und Geschäftemacherei fern lag, auf deren Gesichtern vielmehr der Glanz echter Gottverbundenheit erstrahlte. Der Pfarrer, sagte man mir, versorge sie trotz der heranstürmenden Massen vorbildlich; er lasse die Herbeigereisten ohne weiteres warten, wenn eines seiner Pfarrkinder ihn brauche.

Als ich die Kirche betrat, erstaunte mich die prächtige und geschmackvolle Ausstattung. Ein Gotteshaus, das die Frömmigkeit gleichsam zu atmen schien und daher die Menschen mit sanfter Gewalt auf die Knie, zur Anbetung des Hausherrn nötigte; denn daran, wer hier im Mittelpunkt stand, konnte trotz der beherrschenden Gestalt des Pfarrers (den ich bisher nicht zu Gesicht bekommen hatte) kein Zweifel bestehen. Es wunderte mich daher auch nicht, in diesem Heiligtum neben den Beichtenden schon jetzt außergewöhnlich viele Beter anzutreffen, manche von ihnen augenscheinlich in stille Betrachtung versenkt. „Das hat sie unser Pfarrer gelehrt“, sagte man mir. Ein Vergleich mit dem eher traurigen Bild, das sich in meiner Pfarrkirche nicht nur zu solcher Morgenstunde bietet, ließ Scham über die voreiligen Urteile in mir aufkommen. Sollte es nicht doch möglich sein, daß Gott...?

Es hatte gerade 6 Uhr geschlagen, als sich die Sakristeitür öffnete und eine abgezehrte, doch lichtvolle Priestergestalt in edlen Gewändern zum Altar schritt. Vianney! Alle bereits erwähnten Bedenken und Einwände wollten sich wieder in mir zu Worte melden, lösten sich aber angesichts dieses Anblicks auf wie der Frühnebel vor der Sonne. Nichts an meinem ehemaligen Mitstudenten war exaltiert oder auf Wirkung angelegt. Er zelebrierte die heiligen Geheimnisse den Vorschriften gemäß, ohne Eigenwilligkeiten, nichts in die Länge ziehend, dabei zugleich demütig und würdevoll in allen Bewegungen. Die Hingabe dieses Priesters an seinen gegenwärtigen, geopferten Herrn war unmittelbar spürbar, der Geist tiefer Ehrfurcht und inniger Anbetung ging auf das anwesende Volk über. Selten habe ich an einer Heiligen Messe ergriffener teilgenommen, geschweige denn sie selbst so zelebriert... 

Als ich später die vielgerühmte 11-Uhr-Katechese besuchte, verspürte ich schon gar keine Neigung mehr, etwaige theologische Unvollkommenheiten aufzuspüren. Und wäre das noch immer mein Ansinnen gewesen, ich hätte mich doch geschlagen geben müssen angesichts der Worte voller Weisheit und Liebe, die ich jetzt zu hören bekam. Es erschien mir als ein freundlicher Wink der Vorsehung, daß Vianney ausgerechnet heute über das Priestertum sprach. Er tat es nicht wie ein Büchergelehrter, auch nicht wie ein bloß Glaubender, sondern eher wie einer, der das, was er beschreibt, mit inneren Augen selbst schaut. Einige seiner Aussprüche sind besonders stark in mein bedürftiges Priesterherz eingedrungen. Gewiß spielte der Klang, mit welchem der Pfarrer von Ars sie aussprach, und überhaupt seine ganze Gestalt dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Aber auch lange nach diesem Eindruck haben sie nichts von ihrer Herrlichkeit eingebüßt:

Wenn wir recht begreifen würden, was ein Priester auf Erden ist, würden wir sterben: nicht vor Schreck, sondern aus Liebe. Ohne den Priester wäre das Leiden und Sterben unseres Herrn sinnlos. Der Priester führt das Werk der Erlösung auf Erden fort. Was nützte ein Haus, das mit Gold gefüllt ist, wenn es niemanden gäbe, um die Tür zu öffnen? Der Priester besitzt die Schlüssel zu den Schätzen des Himmels. Und sogar Gott gehorcht ihm: Der Priester spricht einige Wörter aus, und daraufhin steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in der kleinen Hostie ein. Ja, ohne das Sakrament der Weihe hätten wir den Herrn nicht. Wer hat Ihn da in den Tabernakel gesetzt? Der Priester. Wer hat eure Seele beim ersten Eintritt in das Leben aufgenommen? Der Priester. Wer nährt sie, um ihr die Kraft zu geben, ihre Pilgerschaft zu vollenden? Der Priester. Wer wird die Seele darauf vorbereiten, vor Gott zu erscheinen, indem er sie zum letzten Mal im Blut Jesu Christi wäscht? Der Priester, immer der Priester. – Oh, wie groß ist der Priester! Wenn er verstünde, was er ist, er würde sterben. Erst im Himmel wird er sich selbst recht verstehen.“

Und noch dieses wunderbare Wort ist in mir haften geblieben und hat sowohl Vianney als auch mein eigenes Dasein und Wirken in ein völlig neues Licht getaucht: „Das Priestertum, das ist die Liebe des Herzens Jesu.“ Jetzt meinte ich zu verstehen, warum unser Herr Seinen großen Diener im Studium derart schwach erscheinen ließ: um durch diesen geringen Mann alles Hochtrabende und Aufgeblähte zu beschämen und in ihm die Macht der Liebe Seines Herzens zu offenbaren! Ich hatte auch keine Schwierigkeiten mehr mit seinen Gestrengheiten gegen sich und gegen seine Pfarrkinder. Hatte er nicht den Vorläufer und Wegbereiter des Herrn, Johannes den Täufer, zum Namenspatron? Wie diesem war es Vianney darum gegangen, alles in seinem eigenen Leben und in den anvertrauten Seelen zu beseitigen, was sich der Ankunft Jesu entgegenstellte. Dann aber ließ er unter den Menschen die göttliche Liebe in einer einzigartigen Weise aufstrahlen. Welche Barmherzigkeit hat Gott uns durch ihn erwiesen, welche guten Einrichtungen ins Werk gesetzt – man denke nur an die Providence, das Heim für arme Mädchen!

Bleibt noch zu erwähnen, daß ich mir selbstverständlich die Gelegenheit, beim heiligen Pfarrer von Ars zu beichten, nicht nehmen ließ. Seither bin ich der felsenfesten Überzeugung: Die Begegnung mit ihm wird für jeden Priester zu einer große Gnade. (Hier schließt der Bericht des Abbé N.N.)



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Wegweisung für Wegweiser -
Reinigung und Erneuerung des priesterlichen Lebens
Exerzitien mit dem hl. Pfarrer von Ars
Mit einenm Vorwort von Walter Kardinal Brandmüller
UNA VOCE Edition Tremsbüttel 2014
ISBN: 978-3-926377-00-5
Preis 7,80 Euro 
Bestellmöglichkeit: UNA VOCE Shop
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Rezension von Pfr. Guido Rodheudt
Rezension von Hans Jakob Bürger


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