Samstag, 1. Februar 2014

„Stille Post“ - oder: Die Spielregeln Gottes

So heißt ein Spiel, das sich seit unvordenklichen Tagen nicht nur unter Kindern großer Beliebtheit erfreut. Die Teilnehmer – je mehr an der Zahl, desto reizvoller – bilden einen Kreis. Einem von ihnen wird ein Satz oder auch nur ein längeres Wort ins Ohr geflüstert, damit er das Gehörte seinem Nachbarn auf dieselbe Weise weitergebe, und so geht es von Mund zu Ohr, bis wieder der Ausgangspunkt erreicht ist. Oft stellt sich schon auf halber Strecke Ratlosigkeit ein: Man hat nicht recht verstanden, die Worte ergeben keinen Sinn, sind vielleicht nicht einmal als Worte zu erkennen. Wird dann das Schlussergebnis dieses Traditionsprozesses bekanntgegeben und mit dem ursprünglich Gesagten verglichen, so entsteht allgemeine Verblüffung und Belustigung. Wie konnte nur auf derart kurzer Strecke eine Botschaft bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden? Und was würde bei hunderten oder sogar tausenden von übermittelnden Zwischengliedern aus ihr? 

Nicht selten begegnet man der Auffassung, so ähnlich sei es mit der Weitergabe des Glaubens geschehen. Oder sollte man besser sagen: des jesuanischen Anliegens? Denn am Anfang der Entwicklung, als deren vorläufiges Endprodukt allgemein die Kirche gelte, habe ja gar keine Lehre im Sinne von Katechismus und Dogmatik gestanden. Vielmehr sei die Kirche selbst ein tragisches Missverständnis. Alfred Loisy, der Patriarch des theologischen Modernismus, hat im Jahr 1902 diese Sichtweise in die berühmten Worte gefasst: „Jesus verkündete das Gottesreich, es kam die Kirche.“ 

Ursprünglich war also alles ganz anders gedacht. Dem genialen Mann aus Nazareth schwebte etwas vor, das leider nicht eingetroffen ist, das aber nach der Katastrophe von Golgotha seine Eigendynamik entwickelte und in der Weitergabe von Mensch zu Mensch, von Gemeinde zu Gemeinde nach dem Stille-Post-Prinzip ständige Umformungen erfuhr. Es entstand sehr bald schon jene Amtskirche, die um des Erhaltes ihrer Macht willen in wachsendem Masse dafür sorgen musste, die Erinnerung an die eigentlichen jesuanischen Anliegen zu vertilgen und den Menschen stattdessen ein Christentum aus Dogmen, Verboten und Rechtsnormen aufzuerlegen... 

Soweit in simplifizierter Form die Unheilsgeschichte, die im Namen des Heils angezettelt worden sein soll. Demnach wäre die Kirche selbst Ergebnis eines Irrtums und hätte diesen zu eigenen Gunsten gleichsam zementiert. Man müsste hinter sie zurück zu den reinen, unverfälschten Quellen. Wie die Mitspieler im Stille-Post-Kreis anstatt auf das zu hören, was ihnen der Nachbar zuraunt, besser denjenigen befragen sollten, von dem die Worte ausgegangen sind, hätten die Menschen sich innerhalb der Weitergabe des Glaubens dem Ursprung zuzuwenden, um dort den Sinn der Botschaft zu erfahren. 

Das klingt plausibel. Doch merkwürdigerweise herrscht ausgerechnet unter denen, die dieses Verfahren für sich in Anspruch nehmen, die denkbar größte Uneinigkeit. Jede Freikirche, jedes Splittergrüppchen, jede christliche Sekte beruft sich auf die Bibel als das lauterste Wort Gottes, und dabei finden alle diese Gemeinschaften zumeist weniger zueinander, als dass sie sich immer noch weiter aufspalten. Und weshalb das? Weil die Heilige Schrift selbst schon Ergebnis eines Traditionsvorgangs (und nicht etwa dessen Ausgangspunkt) ist. Und weil sie der Auslegung bedarf. 

Hier nun die katholische Lösung des Problems, die ebenso einfach wie überzeugend und einleuchtend ist; fassen wir sie, obwohl der Vergleich in vielem hinkt, in das Bild des genannten Stille-Post-Spiels: In Jesus Christus nimmt Gott selbst die erste Stelle des Kreises ein, den Sein Wort nun bis zum letzten Glied durchlaufen soll. Da der Erlöser der Menschen aber um unser Irren und Wirren weiß, hat Er dafür gesorgt, dass die ersten Hörer des Wortes dieses richtig und vollständig verstanden haben. Und Er hat einzelne Mitspieler beauftragt, den Vorgang der Weitergabe immer wieder zu überprüfen. Sie sollen das im Umlauf befindliche Wort mit dem der ersten Hörer vergleichen und nötigenfalls korrigierend eingreifen. 

Gewiss fehlen in dieser Veranschaulichung wichtige Elemente. Der Grundriss aber ist insgesamt stimmig: Aufbauend auf dem apostolischen Erbe der ersten Zeugen sorgt das kirchliche Lehramt mit göttlicher Vollmacht für die rechte Weitergabe des Offenbarungsgutes. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Wort auch dann, wenn es bis zum letzten Hörer gelangt ist, noch mit dem anfänglich Gesagten und Gemeinten identisch ist. Ja, wenn sich dann einst der Kreis wieder bei Demjenigen schließt, der selbst Alpha und Omega, Anfang und Ende zugleich ist (Apk 1,8), wird Er sich erheben und Seine Wahrheit unverhüllt bekunden. Und alle Mitspieler guten Willens, die aufmerksam lauschten, die sich überprüfen ließen und getreu weitergaben, werden dann erleichtert aufatmen: Ja, genau das ist das Wort, das auch ich gehört und gläubig angenommen habe!

Pater Bernward Deneke FSSP, Wigratzbad




Hinweise:
- mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
- der Beitrag erschien bereits im
Schweizerischen Katholischen Sonntagsblatt (SKS)  

Bild: Sukzession; Wandmalerei in einer Seitenkapelle der Basilika in Ottobeuren; eigenes Foto 

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