Samstag, 25. Februar 2012

Buchstabe und Geist

Von Pater Bernward Deneke FSSP

Was sich manche Schriftstellen so alles gefallen lassen müssen!

Man sollte einmal eine Geschichte der Abwegigkeiten im Umgang mit dem Pauluswort „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig“ (2 Kor 3,6) schreiben. Erstaunliches käme dabei zutage, und das bis in die Gegenwart hinein.

So berufen sich Lehrer, die vor der Rechtschreibkatastrophe der Gegenwart kapituliert haben und daher über die Fehler ihrer Schüler großzügig hinwegsehen, auf Paulus: Es komme doch nicht darauf an, dass ein Kind die Wörter exakt nach dem Duden schreibe; vielmehr müsse der Geist stimmen, und der könne sich auch in einem freieren Umgang mit der Orthographie zeigen.

2 Kor 3,6 muss auch für eine bestimmte Art des Umgangs mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil herhalten. Jene, die sich gegen den Wortlaut der Dokumente auf das „das Konzil“ berufen (ein Verfahren, das nicht zuletzt Papst Benedikt XVI. mit aller Deutlichkeit zurückgewiesen hat), verteidigen sich, wenn man sie auf einschlägige Stellen hinweist, gerne in folgender Manier: „Ja, dem Buchstaben nach magst du wohl recht haben, aber es kommt doch auf den Geist des Konzils an. Der macht lebendig!“ Ob dieser Konzilsgeist der Kirche wirklich eine höhere Vitalität eingehaucht hat, darüber lässt sich trefflich streiten.

Jedenfalls ist das Verhältnis von Buchstabe und Geist genauer zu prüfen. Dabei helfen uns sehr einfache Erfahrungstatsachen, die uns zeigen: Es kommt sehr wohl auf den Buchstaben an, aber für sich allein genommen ist er nutzlos. Denn wie könnte man einen Text lesen, ohne dabei auch die Buchstaben zur Kenntnis zu nehmen? Wer der griechischen oder arabischen Schriftzeichen unkundig ist, der kann das mit ihnen Geschriebene selbstverständlich nicht enträtseln. Und doch bleiben wir eben nicht an den einzelnen Buchstaben hängen, sondern fassen sie als Elemente von Wortgebilden, diese wiederum als Teile jenes Gewebes auf, zu dem sie miteinander verknüpft sind. Dessen Sinn aber erschließt sich uns nur durch den Verstand. So dringt unser Geist von den Buchstaben bis zu jenem Geist vor, der sich in dem Text ausdrückt.

Handelt es sich dabei um besonders tiefsinnige, geheimnisvolle Worte, dann reicht nicht einmal die Kenntnis der Sprache aus. Hier gilt es, der Einsicht gelangen, was sie in Wahrheit sagen wollen. Bekanntlich hat die Sphinx des griechischen Mythos diejenigen, die nur bis zum oberflächlichen Sinn ihrer Orakelsprüche vordrangen und die eigentliche Botschaft nicht erfassten, augenblicklich getötet...

Denken wir uns eine lebensnotwendige Nachricht in ägyptischen Hieroglyphen oder chinesischer Schrift. Solange wir die Zeichen nicht entziffern können, nützt uns das Geschriebene nicht. Mit den Buchstaben allein, ohne ihren Geist sind wir verloren.

Gott ist keine Sphinx und quält uns nicht mit Rätseln. Doch reicht angesichts seiner Offenbarung ein bloß äußerliches Verständnis nicht hin. Denken wir nur daran, wie Jesus Christus die Moral der Pharisäer und Schriftgelehrten geißelte, die sich zwar an den genauen Wortlaut der einzelnen Vorschriften halten wollten, dabei jedoch den Geist des Gesetzes missachteten. So genügt es z.B. nicht, Mord oder Ehebruch zu unterlassen, wenn das Herz dennoch eine Mördergrube oder eine Lasterhöhle ist (vgl. Mt 5,21ff).

Der geistlose Buchstabe ist also zu wenig. Und er ist tödlich für unsere moralische Integrität, tödlich für unser Handeln, tödlich für unser Herz, tödlich sogar für unser ewiges Leben. Daher sagt Jesus, wenn unsere Gerechtigkeit nicht die der Pharisäer und Schriftgelehrten übersteige, könnten wir nicht in das ewige Leben eingehen.

Und dennoch kann man den lebenspendenden Geist nicht vom Buchstaben trennen und gegen ihn ausspielen. An den eben genannten Beispielen wird das klar: Der Geist des Verbotes von Mord besteht ebenso wenig darin, dass die äußere Mordtat nun doch erlaubt sein soll, wie der Geist des Verbotes von Ehebruch das tatsächliche Vergehen gestattet. Im Gegenteil!

So versteht man die Worte Jesu, der betont, er sei nicht gekommen, das Gesetz abzuschaffen, vielmehr es zu erfüllen. Kein Jota und kein Strichlein von der Thora sollten vergehen, bis alles, aber auch wirklich alles erfüllt sei. Ja, diejenigen, die auch nur einen klitzekleinen Teil vom Gesetz wegnehmen, sollten im Himmelreich als die Geringsten gelten (Mt 5,17ff.). Und wo er von der Liebe der Jünger zu ihm, dem Meister, spricht, da sagt er nicht: „Der ist es, der mich liebt, der den Geist meiner Gebote hat“, sondern: „Der ist es, der mich liebt: Wer meine Gebote hält.“ (Joh 14,21)

Denken wir auch an sein Wort von den zwei Söhnen, die von ihrem Vater gebeten wurden, etwas zu tun. Der eine zeigte sich sogleich begeistert, war also von einer Art „Geist des Gehorsams“ gegenüber dem Vater erfüllt, und doch tat er es nicht, während der andere, der sich zunächst alles andere als begeistert zeigte, schließlich dem Willen seines Vaters entsprach. Letzteren rühmt der Herr (Mt 21,28ff.).

Wie bei den Konzilstexten kann man auch bei Gottes Wort nicht gleichsam den Geist von den Buchstaben abziehen. In Wirklichkeit gehören beide zusammen.

Somit gilt: Erst die geisterfüllte Treue zum Buchstaben macht lebendig.

Wie es nicht genügt, Rechtschreibung und Grammatik zu kennen und einzuhalten, um sich der Sprache im Dienst der Wahrheit, des Guten und Schönen zu bedienen, so ist es für ein christliches Leben auch zu wenig, den Wortlaut der Gebote Gottes genau zu beachten. Und wie jemand, der die Sprache liebt, ihre Regeln so verinnerlicht hat, dass er sie ohne viele Überlegungen automatisch anwendet, so befassen sich diejenigen, die ihren Herrn lieben, nicht andauernd mit den Buchstaben eines moralischen Regelwerks, mit seinen Einzelvorschriften und Grenzfällen, sondern erfüllen dies wie selbstverständlich, indem sie den Geist der Gebote, nämlich die Liebe zu Gott und zum Nächsten, suchen. „Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.“ (Röm 13,10)

Sehr viele Beispiele aus dem Bereich aller Gebote könnte man hier anführen, aber letztlich ist es eine Angelegenheit der ganz persönlichen Gewissenserforschung. Man kann sie vielleicht anhand der Forderung des heiligen Franz von Sales anstellen, der nicht müde wurde zu betonen: „Tut alles aus Liebe, nichts nur aus Pflicht.“ Genauso gut hätte er formulieren können: Tut alles im Geiste, nicht nur dem Buchstaben nach. Zwar ist es besser, wenn wenigstens die Pflicht, wenigstens der Buchstabe vorhanden ist (und manchmal sind wir wohl auch so erschöpft, dass uns kaum etwas anderes übrig bleibt, uns daran festzuhalten); aber letztlich ist der Buchstabe für sich allein genommen eben tödlich. Der Geist ist’s, der lebendig macht, der uns neu gestaltet, uns befreit und mit jener Herrlichkeit umkleidet, die bleiben soll in Ewigkeit.


Hinweise:

- mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
- der Beitrag erschien bereits im Schweizerischen Katholischen Sonntagsblatt (SKS)

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